Wie einer der führenden Pharmakonzerne in den USA durch falsche Umsetzung der Digitalisierung bankrott wurde
Im Jahr 1995 war FoxMeyer einer der führenden Medizin Großhändler in den USA.
Das Unternehmen hatte einen Jahresumsatz von 5 Milliarden Dollar und war spezialisiert auf den Absatz von Medikamenten auf Landesebene an Großkunden.
Das Unternehmen war finanziell solide, hatte erfahrene Manager in den richtigen Positionen und war im Markt etabliert.
Eine einzige falsche Entscheidung bei der Digitalisierung brachte diesen Giganten zu Fall - doch lesen Sie selbst.
Mehr Effizienz, Einsparungen und Digitalisierung
Der Anfang vom Ende begann für Fox Meyer mit einem intern als “Delta 3” bekannten Projekt im Jahre 1993.
Ziel davon war es, durch digitale Prozesse mehr Effizienz in den täglichen Ablauf zu bringen.
Dafür wurde eine Marktanalyse und Evaluierung verschiedener Anbieter durchgeführt. Als Gewinner ging SAP R/3 hervor und damit einer der auch heute noch führenden Anbieter im Markt für ERP Systeme.
Zur Unterstützung des ERPs wurde auch noch Pinnacle gekauft, eine Software für die Automatisierung von Warenlagern.
Die Umsetzung und damit die Transformation der Unternehmensbereiche sollte niemand geringerer als Andersen Consulting leiten - zum damaligen Zeitpunkt einer der “Big Five” am Beratermarkt und einer der führenden SAP Integratoren weltweit.
Es war eines der weltweit führenden ERP Systeme, geleitet von einer der weltweit führenden Beratungsfirmen, bei einem Konzern, der Milliarden umsetzte.
Das Projekt sollte den Konzern noch effizienter machen, Millionen einsparen und das Unternehmen auf weiteres Wachstum in der Zukunft vorbereiten.
Was sollte hierbei schief noch gehen?
Die ersten Anzeichen einer schlechten digitalen Transformation
Es gab wie bei jedem Projekt dieser Art und mit diesem Umfang eine Vielzahl von Faktoren, die zusammenspielen müssen für eine erfolgreiche Transformation.
Bei jeder Umsetzung von Digitalisierung auf einer so breiten Unternehmensebene ist es essentiell, die Unterstützung sowohl vom Top-Management zu haben, als auch von den einfachen Arbeitern im Lager.
Das Top Management bei FoxMeyer war selbstverständlich begeistert von diesem Projekt. Interne Berichte zeigen jedoch, dass besonders die Lagerarbeiter, bei denen dieses Projekt am meisten für Effizienz sorgen sollte, in diesem Fall überhaupt nicht begeistert waren davon.
Dies sollte eigentlich auch wenig überraschen, denn die Kombination von Automatisierung des Warenlagers in Verbindung mit SAP R/3 würde genau die Arbeitskraft dieser Mitarbeiter durch Digitalisierung ersetzen und sie würden ihre Jobs verlieren.
Im Rahmen des Projektes wurden drei Warenlager des Unternehmens geschlossen, um ein erstes, vollautomatisiertes Warenlager stattdessen zu betreiben.
Mit Mitarbeitern, die jeden Tag um ihren Job bangen mussten oder die bereits wussten, dass sie in wenigen Tagen gekündigt sind, war die Eröffnung des High-tech Warenlagers eine Katastrophe.
Es wurde mutwillig Inventar beschädigt, Bestellungen blieben unbearbeitet und zusätzlich war die IT Infrastruktur dem Transaktionsvolumen nicht gewachsen und brach zusammen.
Frustrierte Angestellte aus den Lagern, die schließen mussten, knallten oder warfen die Waren in die Transporter, die sie zum neuen High-Tech Lager bringen sollten.
Dort angekommen, war vieles der Waren nach dem Transport derart beschädigt, dass man es nicht mehr als neue, unverpackte Ware verkaufen konnte.
Alleine dadurch entstand ein enormer Schwund an Inventar im Wert von 34 Millionen Dollar!
Es gab auch Warnungen, dass eine vollständige Automatisierung von Waren- und Lagerbestand in 18 Monaten kaum umsetzbar sei, weil dies zu wenig Zeit für eine derart große Transformation sei.
Trotz Warnungen wurde allerdings mit der Umsetzung fortgefahren.
Bei FoxMeyer ging man nämlich davon aus, dass das Projekt jährlich 40 Millionen Dollar einsparen würde.
Rückschläge an dem Projekt wurden als temporär angesehen, obwohl es bereits zu Beginn Belege dafür gab, dass die geplante IT Infrastruktur nicht mit dem erwarteten Transaktionsvolumen mithalten kann.
Laut späteren Aussagen von FoxMeyer wurden von Andersen Consulting sehr unerfahrene Berater an dem Projekt beteiligt, und man nutzte es zeitweise als “Ausbildungscamp” für neue Mitarbeiter.
Auch SAP wurde im Nachhinein für das Projekt kritisiert. Laut FoxMeyer hat es die Firma als Versuchskaninchen für die Grenzen der eigenen ERP Software verwendet.
Kognitive Verzerrung - eine typische Gefahr der Digitalisierung
Die Kombination aus SAP und Andersen Consulting war bis zu diesem Projekt eine Erfolgsgeschichte. Insofern dachte auch niemand, dass es hier zu einer Ausnahme kommen könnte.
Man verließ sich auf den guten Ruf, Bekanntheit und Hochglanzbroschüren, statt tatsächlich die spezifischen Anforderungen des eigenen Unternehmens genau mit den Angeboten abzugleichen.
Die (theoretischen) 40 Millionen Dollar an Einsparungen pro Jahr wirkten zusätzlich nahezu magnetisch für das Top-Management, wodurch diese emotional sehr verfangen waren und keine objektive Sichtweise mehr auf den tatsächlichen Fortschritt hatten.
Auf die Meinung der restlichen Mitarbeiter wurde verzichtet.
Damit gab es auch keinerlei Change Management oder Unterstützung für das Projekt auf den unteren Hierarchieebenen.
Mehr und mehr auftretende Probleme ließen das Projekt immer länger andauern.
Je länger das Projekt dauerte, desto mehr Millionen wurden investiert.
Je mehr investiert wurde, desto heftiger wurde versucht, es mit allen notwendigen Mitteln umzusetzen - “man habe ja schließlich schon so viel investiert”.
Ein klassischer Fehler in der Digitalisierung ist, sich eine high-end Software Lösung zu kaufen oder zu erschaffen, und anschließend nicht genug ausgebildetes Personal zu haben, um diese effektiv wie geplant zu bedienen.
Oftmals erhofft man sich durch die scheinbare technische Überlegenheit eines Tools alleine bereits Umsätze zu steigern, Kosten zu senken und die Hälfte des Personals einzusparen.
In der Praxis sind diese Vorhaben jedoch immer sehr komplex und erfordern in jedem Fall auch hochqualifiziertes Personal für die Aufgaben vor, während und nach der digitalen Transformation.
Digitalisierung bedeutet nicht, keine Angestellten mehr zu benötigen, sondern meistens hochspezialisierte Angestellte in anderen Bereichen zu benötigen.
Ähnliches passierte auch bei FoxMeyer.
Schon bei der Installation der Programme waren zu wenige geschulte Mitarbeiter vorhanden, um diesen in deren vollem Umfang richtig zu nutzen.
Um dies auszugleichen, verließ man sich auf Andersen Consulting und deren Mitarbeiter, die zu Spitzenzeiten über 50 Berater Vollzeit an dem Projekt beschäftigt hatten.
Die meisten davon waren jedoch nicht für derart komplexe Integrationen ausgebildet und mit der Situation überfordert.
Viele kündigten auch aus Frust während der Arbeiten am Projekt und wurden durch neue Berater ersetzt, wodurch die vor Ort arbeitende Mannschaft immer unerfahrener und unsicherer wurde, je länger das Projekt dauerte.
Um es noch schlimmer zu machen, hatte das Projekt von Beginn an enormen Zeitdruck. Genauer gesagt, war es mit den damaligen technischen Gegebenheiten nicht möglich, dies in der vorgegebenen Zeit umzusetzen.
Viele Teile des Systems wurden daher nie ordentlich getestet, und Fehler oder Bugs wurden nur kosmetisch bereinigt - wenn überhaupt.
Dazu kam Weiters, dass SAP R/3 zu diesem Zeitpunkt eines der fortschrittlichsten Systeme am Markt war, und brandneu.
Was vielleicht für manche wie ein Vorteil klingt, entwickelte sich jedoch in diesem Fall zu einem Nachteil. FoxMeyer war einer der ersten Konzerne weltweit, die dieses ERP System nutzen sollten. Es war damit nicht ausgereift für Transaktionsvolumen und Komplexitäten dieser Art.
Noch dazu war SAP R/3 ein System, das in seiner Architektur für Produktionsfirmen entworfen wurde, und nicht für Großhändler mit viel Warenumschlag wie FoxMeyer es war.
Daher fehlten in der Programmierung essentielle Schnittstellen und Abläufe, die derart hohe Tranksationsvolumina erlaubten.
Obwohl erste Tests ergaben, dass das System mit den notwendigen Anforderungen fertig wird, stürzte es in der Praxis jedoch ab und zerstörte somit den Warenfluss, Bestellungen und viele weitere lebenswichtige Abläufe des Unternehmens.
Schließlich gab es bei diesem Projekt auch noch kognitive Verzerrung bei Andersen Consulting und SAP selbst.
Beide Firmen genossen nämlich einen exzellenten Ruf am Markt.
Was eigentlich eine sichere Umsetzung garantieren sollte, wurde hier abermals zum Problem.
Sich von einem derart großen Projekt zurückzuziehen, würde für beide Unternehmen viele weitere Großaufträge in der Zukunft ins Wanken bringen und die Reputation gefährden.
Den Ruf als führender Dienstleister wollte man nicht einfach so der Konkurrenz überlassen.
Deshalb wurde trotz umfangreicher Probleme versucht, mit allen Mitteln das System wie geplant ins Laufen zu bringen, obwohl es bereits von Beginn weg zahlreiche Warnsignale gab, dass es nicht wie gewünscht funktionieren wird.
Die digitale Katastrophe
Als nach jahrelangen Umstellungen und immer wieder heftigen Rückschlägen endlich das System mit dem neuen, voll-automatisierten Warenlager online ging, passierte das, was letztendlich der Todesstoß für das viertgrößte Pharmaunternehmen in den USA werden sollte.
FoxMeyer hatte durchschnittlich 420.000 Bestellungen pro Tag von seinen Kunden.
Sobald das neue System vollständig live geschaltet wurde, stürzte es bei 10.000 Bestellungen pro Tag ab.
Die Software war nicht für dieses Volumen ausgelegt.
Das Bestellsystem brach zusammen, Kunden konnten keine Waren mehr bestellen.
Besonders im Medizinbereich brauchen Kunden wie Apotheken deren Ware aber zeitnah - und waren somit gezwungen schnellstmöglich bei anderen Anbietern zu kaufen, um die Endkunden beliefern zu können.
Jahrelang aufgebaute Kundenstämme wurden in wenigen Wochen verloren.
Über die Köpfe der Mitarbeiter wurde von Beginn des Projektes an hinweg entschieden. Viele verloren entweder bereits während der Umsetzung ihren Job, oder sollten ihn bald verlieren wegen der Implementierung von Delta 3.
Die Moral der Belegschaft war dementsprechend am Boden und führte höchstens zu Sabotageakten anstatt zur Unterstützung des Projektes.
Nach 4 Jahren und 100 Millionen Dollar an Budget für die Umsetzung meldete eine der größten Pharmafirmen in den USA Konkurs an.
Über 4.000 Angestellte verloren ihren Job.
All dies geschah trotz umfangreichem Budget, einem der besten IT Systeme und der Leitung einer der führenden Beratungsunternehmen.
Dieser Fall macht viele Probleme und Gefahren der Digitalisierung deutlich und zeigt in vielen Bereichen, wie man es nicht machen sollte.
Wie hätte man diese Fehler vermeiden können?
Im Nachgang weiß man es immer besser.
Für diesen Fall stellt sich die Frage, ob man das Projekt hätte retten können.
Hier sind einige Lösungsansätze:
Ein wesentlicher Faktor, der in jedem Digitalisierungsprojekt immer Beachtung finden sollte, in diesem Fall aber vollständig ausgeblendet wurde, ist das Risiko zu begrenzen.
Digitalisieren bedeutet immer ein enormes Risiko, da man nie weiß wie sich ein Projekt entwickeln wird.
Jeder Markt ist anders, jedes Unternehmen funktioniert anders, Hierarchien unterscheiden sich, Kunden reagieren anders, etc.
Selbst bei der Erfolgsgeschichte des teuersten Beratungsunternehmens und einer grundsätzlich soliden Software ist die Komplexität bei jedem neuen Projekt derart hoch, dass immer etwas schief gehen kann.
Dieses Risiko nicht abzuwägen, und das Projekt weder vom Einflussbereich auf den gesamten Betrieb zu begrenzen, noch die Kosten mit einem klaren Limit zu versehen, sind vermutlich die größten Fehler in dieser Transformation gewesen.
Die gesamte Distribution aller Produkte im Unternehmen nur vom neuen System abhängig zu machen, ohne den Ausgang des Projektes überhaupt zu kennen, war dabei wohl der gravierendste Fehler.
In einer Pressemitteilung soll der CIO des Unternehmens als man ihn mit den Problemen konfrontierte gesagt haben: “We are betting the company on this!” - und machete damit die Haltung des Management unweigerlich klar.
Das Schicksal eines Unternehmens auf eine Technologie zu wetten, ist damals wie heute keine gute Idee.
Ein weiterer, entscheidender Faktor war die Moral der Belegschaft.
Kein Top-Manager sollte jemals so naiv sein zu glauben, dass Mitarbeiter mit Freude ein IT-System umsetzen, bei dem von Anfang an klar ist, dass es den eigenen Job bald ersetzen wird.
Vielleicht hätten viele der Angestellten Ideen gehabt, wie man die Abläufe auf einfache und kostengünstige Weise verbessern könnte.
Man hätte sich die täglichen Probleme ansehen können auf Potenzial für Digitalisierung und Verbesserung, den Alltag der Arbeiter und Angestellten.
Sicherlich wären viele von Ihnen bereit gewesen zu helfen und ihre Meinung zu sagen, wenn man sie gefragt hätte.
Entscheidungen “von oben herab” sind hierarchisch und autoritär natürlich immer umsetzbar. Erwarten Sie jedoch in diesem Fall keine große Unterstützung und rechnen Sie damit, dass vieles an der vordersten Front beim Kunden und im Lager anders aussieht als im Chefbüro.
Fehleinschätzungen und Verzerrung der Wahrnehmung sind somit vorprogrammiert - und damit auch falsche Entscheidungen!
Digitalisierung selbst löst auch keine Probleme, sondern verstärkt das Vorhandene.
Wenn Sie vorher bereits effektive Abläufe und eine klare Kommunikation durch die Unternehmensebenen haben, kann diese mit Digitalisierung noch effektiver und besser werden.
Wenn Sie aber ohnehin Schwierigkeiten bei den täglichen Abläufen haben und Probleme bei der alltäglichen Produktion und dem Vertrieb der Produkte haben, werden Sie mit Digitalisierung nur noch mehr davon bekommen.
Auch die Wahl des ERP Systems und der Berater war in diesem Fall fehlgeleitet.
Man wollte den “Ferrari” unter den ERP Systeme und Beratern kaufen für astronomisch hohe Beträge.
Gemäß dem Grundsatz: "Man bekommt das, wofür man bezahlt” sollte man damit auf der sicheren Seite sein.
Digitalisierung funktioniert nur leider nicht so einfach wie z.B. der Kauf einer Armbanduhr.
Besonders bei derart umfangreichen Projekten muss vieles ohnehin von 0 auf neu erstellt werden. Nur weil es für eine andere Firma funktioniert hat, muss es für Ihren Betrieb noch lange nicht funktionieren.
Die Referenzen, der Ruf am Markt und viele weitere traditionelle Qualitätsmerkmale sind bei solchen Projekten leider nur selten hilfreich.
Wie sehen Sie diesen Fall?
Was hätten Sie dabei anders gemacht?
Lassen Sie es uns in den Kommentaren wissen!
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